Zeitreise mit Bildern aus uralten Alben mit Postkarten und Fotos vom Beginn des 20. Jahrhunderts, Folge 1
Berlin, 13. November (ssl) Für SchieneStraßeLuft eher ungewöhnlich, startet hiermit ein Work-in-progress-Blog. Eine Zeitreise anhand von drei uralten Postkarten- und Fotoalben, zunächst ungeordnet, mit ein wenig Datenrecherche, um das Umfeld zu erhellen. Zwei Alben brachte neulich eine entfernte Verwandte: Eines mit Fotos aus dem frühen 20. und möglicherweise auch aus dem späten 19. Jahrhundert, und eines mit Postkarten. Ich selber besitze schon seit einigen Jahrzehnten ein Postkartenalbum, ein Erbstück meines Großvaters väterlicherseits. Das habe ich nun auch wieder rausgekramt..
Welche Schicksale sich hinter den papiernen Zeitzeugen verbergen, wissen wir noch nicht. Wer auf den Fotos zu sehen ist, erschließt sich nur teilweise. Die Texte auf den Postkarten sind teilweise in Kurrentschrift verfasst. Da muss ich erst wieder lesen lernen.
Fangen wir an mit einer Postkarte, die die nordfranzösische Stadt Hautmont an der belgischen Grenze zeigt. So ruhig wie auf dem Bild war es am Tag, als sie geschrieben wurde, wohl nicht. Ein deutscher Soldat schrieb sie am 8. November 1914. Vor 102 Jahren.
Naheliegend war es, nach dem Ort zu googeln. Persönlich war ich noch nie da. Hautmont hat eine eigene Website. Dort habe ich den E-Mail-Kontakt gesucht und gefunden, um zu fragen, wie die Straße heute aussieht. Frau LeGouèze von der Stadtverwaltung hat mir freundlicherweise sehr schnell ein aktuelles Foto geschickt. Die “Rue” ist inzwischen zur “Avenue” befördert worden, zu Recht, wie man sieht, auch wenn nach meinem Empfinden der Fotograf des 21. Jahrhunderts die Mülltonnen hätte aus seinem Motiv aussparen können. Das neue Foto zeigt nach Frau Le Gouèzes Angaben denselben Teil der Straße. Es ist lediglich von der anderen Straßenseite aus aufgenommen.
Mittlerweile habe ich auch einen wesentlichen Satz der auf der Rückseite geschriebenen Mitteilung entziffern können. Die Rechtschreibfehler habe ich stehen lassen:
So will ich dir eine Karte schreiben, mir geht es ganz gut und uns allen Kollegen und gesund sind wir auch alle, was ich auch fon dir und deinem ganzen Haus hofe, — —— was meine Augen hier sehen erzähle ich dir mündlich wenn wir wieder heim komm, —– und mich freuen muss, daß ich als alter Soldat dem Vaterland noch dienen kann.
Selbst wenn wir dem Autor nicht ohne weiteres zutrauen dürfen, bewusst so geschrieben zu haben, dass seine wahren Ansichten zwischen den Zeilen lesbar sind und so nicht der Feldpostzensur zum Opfer gefallen sind, so machen die Formulierungen doch klar: Hier schreibt jemand aus einer mindestens unangenehmen Situation heraus, dass er sich freuen „muss“, als Soldat dienen zu können.
Dokumente im Internet zur Situation in Nordfrankreich in den ersten Monaten des „Großen Krieges“, wie ihn die Franzosen heute noch nennen, beschreiben die Leiden des Krieges. Die starken Befestigungen, die nach dem Verlust des Krieges 1870/71 errichtet worden waren, hielten dem Ansturm der Reichswehr nicht stand. Schon im Septemberr 1914 nahm sie die Stadt ein. Danach begann die Deportation von Alten und Behinderten, „nutzlosen Mündern“ aus der Stadt. In dieser Zeit wurde die Postkarte geschrieben.
14 Jahre früher: Eine Postkarte aus dem Nachlass meines Opas zeigt unter anderem stolz die Reichskriegsflagge. Hier interessierte mich, was die Kaiser-Regatta eigentlich war, offenbar eine Vorläuferin der Kieler beziehungsweise der Travemünder Woche. Im Gegensatz zu dem ersten Bild also eine Erinnerung an bessere Zeiten für das Deutsche Reich (und natürlich, für die Franzosen, die in Hautmont unter den kaiserlichen Soldaten litten).
Allerdings hatte Seine Majestät keine glückliche Hand bei seinem Versuch, auch persönlich die Vorherrschaft auf den Meeren zu erreichen, was er ja für die Kriegsmarine als Ziel ausgegeben hatte. Er segelte selbst und versuchte es mit fünf Hochseeyachten , die teilweise als „Rennkutter“ bezeichnet werden. Alle hießen „Meteor“. Bei der Kaiser-Regatta 1900, als diese Postkarte geschrieben wurde, hatte er die „Meteor II“, gebaut in Schottland. Ausgerechnet in dem Land, dessen Vorherrschaft zur See er mit seiner Kaiserlichen Marine brechen wollte. Ausgerechnet an der Küste Schottlands versank die stolze Flotte am Ende kläglichst.
Auch der Kaiser konnte trotz aufwendigster Ausstattung seiner Yachten nicht viel Ruhm als Segelchampion einstreichen. Nun ja, wenn man Wert auf Kamin und Klavier an Bord legt …
Diese Karte sieht übrigens – wie so viele aus jener Zeit – auf der Adressenseite keinen Raum für persönliche Nachrichten vor. Deshalb stehen die „lieben Grüße“ wie bei vielen aus diesem Album auch auf der Frontseite.
Mein Großvater war Reedereikaufmann. Er arbeitete bei einer Spedition und ließ sich die vielen Postkarten offenbar an seine Dienstanschrift schicken – oder vielleicht wohnte er um die Jahrhundertwende sogar dort. Beim Googeln nach der damaligen Adresse gelangte ich auf die Seite der Lübecker Stadtbibliothek, die dankenswerterweise die Adressbücher der Hansestadt digitalisiert hat.
Sein Arbeitgeber, die Handlung und Spedition Charles Petit, hatte demnach zur fraglichen Zeit eine Super-Adresse an der Untertrave, direkt an den Liegeplätzen der Schiffe, als diese noch klein genug waren, um bis in die heutige Altstadt von Lübeck fahren zu können. Das war damals auch ein beliebtes Postkartenmotiv, aber wie das so ist: Mein Opa hat sich selbst keine Postkarte mit einer Ansicht seines Büros geschickt. Petit war immerhin Konsul von Dänemark, einem der wichtigsten Handelspartner Lübecks, sein Sohn sogar Mitglied der Bürgerschaft und Generalkonsul. Im Gegensatz zu meinem Opa haben beide es zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft.
Wir werden in den nächsten Folgen versuchen, auch ohne Wikipedia aus den Postkarten noch mehr über die weniger bedeutenden Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts zu erfahren.