Nicht schimpfen, sondern reden mit den Populisten

Bertelsmann-Studie: Zugleich Frühwarnsystem und Gefahr – Einfluss auf Bundestagswahl eher gering

Berlin, 25. Juli (ssl) Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt in ihrer jüngsten Studie, „Populismus“ nicht als Schimpfwort zu benutzen. Das Aufkommen solcher Strömungen könne auch als Frühwarnsystem begriffen werden, und mit ihren Anhängern sollte man sich besser in Diskussionen auseinandersetzen, anstatt sie zu beschimpfen – von dem Populismus der rechtsextremen Ausprägung abgesehen. Die Studie gibt zwar Entwarnung hinsichtlich des Einflusses populistischer Strömungen auf die bevorstehende Bundestagswahl, aber nicht für den Fall, dass sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland verschlechtert. Immerhin beträgt der populistische Bodensatz hierzulande 29,2 Prozent.

„Die These ‚Die Bundestagswahl ist die Stunde der Populisten‘ möchten wir absagen“, erklärte Robert Vehrkamp von der Stiftung. Große Gefahren für die liberale Demokratie bestünden zurzeit nicht. Das politische Klima sei „meilenweit“ von einer Stimmung entfernt, dass populistische Einstellungen Wahlentscheidungen in größeren Anteilen bestimmten. Um ihre Studie fundiert zu führen, mussten sie zunächst „den Populisten“ definieren. Er zeichnet sich demnach durch drei wesentliche Charakterzüge aus: Anti-Establishment-, Anti-Pluralismus- und Pro-Volkssouveränitäts-Einstellung, sagte Vehrkamp. Er neige zu ganz starker Vereinfachung und halte sich selbst für den Repräsentanten eines (in Wirklichkeit nicht existenten) einheitlichen Volkswillens. Auf einem zugehörigen Fragebogen fehlte die „Weiß nicht“-Position. Vielmehr konnte nur eine der vier Möglichkeiten „stimme zu/nicht zu“, „stimme eher zu/eher nicht zu“ angekreuzt werden. Die Fragen lauteten etwa: „Die Parteien wollen nur die Stimmen der Bürger, ihre Ansichten interessieren sie nicht.“

29,2 Prozent sind als populistisch einzustufen

Daraus ergab sich, dass 29,2 Prozent der Bevölkerung als populistisch einzustufen sind, 33,9 Prozent als „teils/teils“ und 36,9 Prozent als unpopulistisch. Die Quoten bedeuteten aber nicht, dass die einschlägigen Gruppen nichts von der Demokratie wissen wollten, sagte Vehrkamp. Vielmehr habe sich eine recht große Zustimmung zum demokratischen System ergeben. „Es handelt sich in Deutschland um einen sehr moderaten Populismus. Berlin ist nicht Washington“ – wo Populisten Donald Trump an die Macht gebracht haben – „und auch nicht Paris“ mit seinem hohen rechtspopulistischen Potenzial, sagte er. Rund 85 Prozent halten das deutsche Gesellschaftssystem für gut, wenngleich ein hoher Prozentsatz an dessen derzeitigen Funktionieren einiges auszusetzen hat.

Ähnlich ist es mit der Europäischen Integration. Das war das wohl verblüffendste Ergebnis der Studie: „Ein Dexit hätte nicht den Hauch einer Chance“ in Deutschland, sagte Vehrkamp und riet allen Politikern und Meinungsbildnern, offensiv pro-europäisch zu argumentieren, wenn sie Populisten wieder in die Mitte des politischen Spektrums zurückholen wollten, auch wenn 60 Prozent der Personen mit populistischer Einstellung AfD wählten – wenn sie überhaupt zur Urne gingen. Je populistischer, desto AfD – diese Relation gilt für keine andere Partei in dieser Form.

Bezeichnenderweise weist lediglich die Linke eine leicht steigende Tendenz auf, aber eben nur leicht. Bei allen anderen Parteipräferenzen zeigt die Kurve in die andere Richtung: Je mehr sie einer Partei zuneigen, um so geringer ist ihr Populismus ausgeprägt. Umgekehrt wird also „keine Partei von so vielen unpopulistisch eingestellten Menschen gewählt wie die CDU/CSU“, sagte der Forscher. Die AfD habe ihre Wähler im übrigen ausschließlich mit der Flüchtlingsfrage mobilisiert. Dennoch rieten die Autoren der Studie allen anderen Parteien davon ab, über die Flüchtlingspolitik Wähler gewinnen zu wollen. Bei einem solchen Versuch wendeten sich auf der anderen Seite mehr Wähler von der Partei ab, als sie auf der populistischen Seite gewänne.

Tatsächlich haben der Studie zufolge die vergangenen Landtagswahlen gezeigt, dass zahlreiche bisherige Nichtwähler aus dem bürgerlichen Lager wieder zur Urne gegangen seien, um ein Zeichen gegen Populismus zu setzen. Die „bürgerliche Gegenmobilisierung“ habe etwa in Nordrhein-Westfalen den AfD-Erfolg überkompensiert. So gesehen, könnte bei der Bundestagswahl „die AfD Wahlhilfe für Angela Merkel leisten.“

Verteufeln ist nicht die richtige Strategie

Koautorin Christina Tillmann wies darauf hin, dass die Umfrage eindeutig gezeigt habe, dass populistische Haltungen von Bildungsgrad und Einkommen abhängig seien. Je weniger Einkommen und/oder je geringer der Bildungsgrad, umso größer der Hang zum Populismus, also zu einfachen Lösungen, die es vielfach gar nicht gibt. Das habe etwa die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gezeigt. „Die soziale Spaltung ist durch die Politisierung eher größer geworden“, resümierte sie. Es sei eine große Aufgabe für die Politik, gegen diesen Trend zu arbeiten. Denn wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse sich verschlechterten, werde die Gefahr größer, dass populistische Parteien Boden gewönnen. „Das stabile Verhältnis kann kippen“, sagte Vehrkamp. Schnell seien Grundfesten der liberalen Demokratie in Gefahr, wenn Populisten an die Regierung kämen, wie in einigen Nachbarländern zu beobachten sei. Die Studienautoren rieten zu offensiv pro-europäischer Wahlstrategie. Das habe in Frankreich auch geholfen. „Verteufeln ist nicht die richtige Strategie.“