Abzweig auf der Brücke

Unterwegs auf der Neubaustrecke Leipzig-Erfurt

Berlin, 15. November (ssl) Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich soll in einem Monat ein zentrales Teilstück der Bahn-Neubaustrecke Berlin-Nürnberg dem fahrplanmäßigen Verkehr übergeben: die Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Leipzig/Halle und Erfurt. Dieser Tage finden Testfahrten mit ICE-T-Triebzügen statt, bei denen die Lokführer Streckenkenntnis erwerben und in das Leit- und Sicherheitssystem ETCS eingewiesen werden sollen, ohne das Züge auf dieser Strecke nicht mehr fahren können. Auf einer der Messfahrten waren Journalisten dabei.

Unterwegs mit Tempo 219 mit dem ICE-T auf Messfahrt Richtung Erfurt. © alle Fotos: Rietig
Unterwegs mit Tempo 219 mit dem ICE-T auf Messfahrt Richtung Erfurt. © alle Fotos: Rietig

„Wir testen den Alltag. Funktionieren die Systeme stabil? Was geschieht bei einem Ausfall des ETCS?“, sagt Ausbildungslokführer Volker Rieger im Cockpit des ICE-T irgendwo zwischen Bibratunnel und Gänsebachtalbrücke. Hier an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Leipzig-Erfurt stehen keine Signale mehr, die dem Lokführer optische Befehle geben.

ETCS, European Train Control System, bedeutet: Alles spielt sich auf dem Display im Cockpit ab. Es soll – vielleicht – in zehn Jahren Teil eines auf dem Kontinent freizügig einsetzbaren Leit- und Steuersystems für Eisenbahnen sein. Allerdings entwickelt es die Industrie auch schon seit Jahrzehnten, begleitet von heftigen Diskussionen der Bahnen untereinander und mit den mächtigen Konzernen. Manchmal kommen die Updates schneller als der Einbau in die Züge. Darüber hinaus ist es extrem teuer.

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Der ICE-T: Neigezug ohne Neigung

Der ICE-T "Oberursel" am Bahnsteig in Leipzig.
Der ICE-T “Oberursel” am Bahnsteig in Leipzig.

Der ICE-T ist ein siebenteiliger Hochgeschwindigkeitszug, der technisch als Neigezug konzipiert ist, zurzeit aber nicht „neigt“. Jedenfalls legt er sich nicht so weit in die Kurve, dass er sie auf herkömmlichen Strecken mit deutlich höherem Tempo durchfahren könnte als andere Züge. Die Ursache dafür ist das “Achsenproblem” der Deutschen Bahn. Die Achsen werden bei der höheren Geschwindigkeit in engen Kurven so stark beansprucht, dass die Stabilität nur mit extrem intensiver Wartung gewährleistet werden kann. Das ist der Bahn derzeit den Aufwand beim ICE-T nicht wert. Auf Hochgeschwindigkeitstrassen kann der Zug dagegen gefahrlos seine 230 ausfahren, sofern die Strecke dafür ausgelegt ist. Die erwähnten Züge sind mit dem ETCS-System ausgerüstet. Nur so kann ein Zug überhaupt diesen Teil der Neubaustrecke nutzen. Er bietet knapp 400 Plätze, davon 20 im Bordrestaurant.

http://www.bahn.de/p/view/service/zug/fahrzeuge/ice_t.shtml

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Der Neubauabschnitt VDE 8.2 (Verkehrsprojekt Deutsche Einheit), auf dem der Triebzug heute fährt, ist von Hauptbahnhof Leipzig bis Hauptbahnhof Erfurt genau 120 Kilometer lang. Er geht am 13. Dezember in den Regelbetrieb. Dann sind 2,8 Milliarden Euro verbaut worden.

Für 230 km/h Höchstgeschwindigkeit sind die ICE-T-Züge zugelassen, und das ist vorerst auch das Höchsttempo im Regelbetrieb. „Aber der ICE-S ist hier schon mit Tempo 350 lang gefahren“, ergänzt Ausbildungslokführer Volker Rieger im Cockpit. Der ICE-S ist ein speziell für Testfahren getunter Zug, der alle Strecken regelmäßig mit einer Geschwindigkeit testen muss, die mindestens zehn Prozent über dem später planmäßig gefahrenen Tempo liegt.

Wenn Ende 2017 die Neubaustrecke VDE 8.1/2 Berlin-Halle/Leipzig-Erfurt-Nürnberg fertig ist, wird sie auf vielen Teilstrecken, unter anderem zwischen Erfurt und Leipzig, mit Tempo 300 befahren werden. Dann soll der Sprinter die Fahrgäste in weniger als vier Stunden von Berlin nach München befördern. 12,5 Milliarden Euro wird die Schnellstrecke dann seit der Entscheidung 1991 gekostet haben.

So weit ist es aber noch nicht. Jetzt auf der Testfahrt bleibt der ICE-T hin und wieder stehen. Das ist durchaus geplant: Simuliert wird unter anderem eine Weiterfahrt unter Ersatzsignal, wenn Teile der digitalen Steuerung ausfallen. „Der Weiterfahrt wird nicht mittels Hauptsignal zugestimmt, sondern im Rahmen des Übungsszenarios mittels Ersatzsignal“, erläutert Frank Kniestedt, der Pressesprecher der Deutschen Bahn für diese Strecke. Dazu muss der Lokführer zum Telefonhörer greifen. Der Zug wird dann unter vollständiger Überwachung aus dem Stellwerk weitergeleitet.

Frank Kniestedt erklärt die Messfahrt im ICE-T "Oberursel". Rechts VDE8-Projektleiter Olaf Drescher.
Frank Kniestedt erklärt die Messfahrt im ICE-T “Oberursel”. Rechts VDE8-Projektleiter Olaf Drescher.

Gleiswechsel mit Tempo 130

Später dann wechselt der ICE mit 130 km/h das Gleis und setzt seine Reise auf dem „falschen“ Gleis mit Tempo 230 fort. Da muss man heute, vier Wochen vor Eröffnung, ganz bestimmt keine Angst vor Gegenverkehr haben. Es ist zurzeit kein anderes Schienenfahrzeug auf dem Neubauabschnitt unterwegs. Im Regelbetrieb wechselt der Zug das Gleis, wenn auf dem anderen Bauarbeiten sind oder wenn er von einem schnelleren überholt werden soll.

Auch das Überfahren eines Haltsignals wird simuliert. „Haltsignal“ bedeutet hier die Grenze zwischen zwei Blockabschnitten. An der Strecke erkennt man die Stelle an blauen Schildern mit einem gelben Pfeil, der optische „Halt“-Befehl steht auf dem Display des Cockpits.

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Blick aus dem Cockpit von “Oberursel”. Deutlich zu erkennen die blauen Blechschilder, die an den Grenzen der Blockabschnitte stehen. Aktive Signale gibt es an der Strecke nicht mehr. Sie sind ins Display des Lokführers verlegt worden.

Die beiden Lokführer, die neben Rieger vor den Displays sitzen, sind zwar altgediente Profis auf den diversen „Hobeln“ der Bahn, aber für diese Strecke müssen sie – wie alle anderen, wie bei jeder neuen Strecke – neu eingewiesen werden. Dazu dient der ICE-T „Oberursel“. Aber auch Diesellokführer müssen hier Streckenkenntnis erwerben. Sie tun es mit jenen Maschinen, die bei einem „Ereignis“ – also bei Pannen, Unfällen oder ähnlichem – auf die Strecke geschickt werden, um schadhafte Züge abzuschleppen.

Heute muss „Oberursel“ nicht abgeschleppt werden. Die Bahn geht natürlich davon aus, dass das auch künftig höchst selten der Fall sein wird. Hält der neue Fahrplan vom 13. Dezember an in der Praxis, was er verspricht, so verkürzen sich die Reisezeiten im Ost-West-Verkehr erheblich. Es geht bis zu einer Stunde schneller als bisher von Wiesbaden oder Frankfurt nach Leipzig oder Dresden.

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Schneller von Wiesbaden nach Dresden

Die ICE-Linie 50 Dresden/Leipzig-Frankfurt/Wiesbaden verkehrt im Fahrplan 2016 stündlich über die neue Strecke. Von Frankfurt nach Leipzig braucht der Zug dann 3:05 Stunden, nach Dresden 4:20 Stunden. Es werden neben den bestehenden schnellen Verbindungen Frankfurt-Berlin über Göttingen vier neue über die VDE 8.2 geführt, die es in vier Stunden schaffen. Damit verkürzen sich auch die Reisezeiten aus den Zwischenhalten Erfurt und Halle nach Berlin oder Frankfurt drastisch.

http://www.deutschebahn.com/de/konzern/im_blickpunkt/4594024/fahrplanwechsel.html

Was sich sonst noch alles zum Fahrplanwechsel ändert:

https://schienestrasseluft.de/2015/09/25/doppelstock-intercity-ic-2-kommt-im-dezember/

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Der Abschnitt Erfurt-Halle/Leipzig der Neubaustrecke sieht auf den ersten Blick wenig anspruchsvoll aus. Keine extremen Steigungen oder Gefälle, lediglich die Flüsse Unstrut und Saale müssen überquert werden. Aber genau dort, wo es darum ging, den Abzweig nach Halle anzuschließen, überquert sie die Saale-Aue. Dort steht nun die mit 8,6 Kilometern längste Bahnbrücke Deutschlands. Die abzweigenden Gleise nach Halle werden ebenfalls vollständig auf Stelzen kreuzungsfrei nach Norden abgeführt. Diese Abzweigung benutzt die Messfahrt 13961 mit dem ICE-T „Oberursel“ auf der Rückfahrt des Testzugs von Erfurt. Im Bahnhof von Halle endet sie. Ernsthafte Zwischenfälle hat es nicht gegeben.

Feste Fahrbahn mit Querstreben. Hier hat die Deutsche Bahn auf Veranlassung des Eisenbahn-Bundesamtes Betonstreben nachgerüstet, die quer zum Schienenverlauf liegen. Sie sollen die Stabilität der tier verwendeten "festen Fahrbahn" (im Gegensatz zum Schotterbett) erhöhen.
Feste Fahrbahn mit Querstreben. Hier hat die Deutsche Bahn auf Veranlassung des Eisenbahn-Bundesamtes Betonstreben nachgerüstet, die quer zum Schienenverlauf liegen. Sie sollen die Stabilität der tier verwendeten “festen Fahrbahn” (im Gegensatz zum Schotterbett) erhöhen.

Der Knoten Halle gehört noch mit zu dem Neu- und Ausbauvorhaben. „Wir wollen ja die eingesparte Zeit, die wir auf der Strecke mit dem hohen Tempo herausholen, nicht im Bahnhof wieder verlieren“, sagt Kniestedt. Also baggern, planieren, schottern und verlegen auch hier Ingenieure, Arbeiter und Baumaschinen für 700 Millionen Euro die Gleisanlagen neu. Alles soll in zwei Jahren fertig sein. Dazu gehört auch eine neue Zugbildungsanlage, vulgo: Rangierbahnhof am Nordausgang des Bahnhofs. Sie ersetzt zwei veraltete Anlagen in Dresden-Friedrichstadt und Leipzig-Engelsdorf. 120 Waggons pro Tag sollen hier durchlaufen, das macht allein für Sachsen-Anhalt 33 Millionen Tonnen Güter pro Jahr.

Die ersten Gleise der neuen Zugbildungsanlage Halle-Nord liegen schon.
Die ersten Gleise der neuen Zugbildungsanlage Halle-Nord liegen schon.

Die Bahn ist froh, dass sie dieses Vorhaben noch umsetzen konnte, denn im Gegensatz zum Baubeginn ist der Güterverkehr auf der Schiene zur Zeit in einer deutlichen Abwärtsbewegung, weil die Kraftstoffpreise seit einigen Jahren drastisch nachgegeben haben und die Versender den Verkehr auf die Straße verlagern. Unter den aktuellen Sparvorgaben wäre dieser Rangierbahnhof mit großer Wahrscheinlichkeit dem Rotstift zum Opfer gefallen. Im Personenfernverkehr setzt die Bahn derzeit noch darauf, mit erhöhten Anstrengungen der Abwanderung der Fahrgäste entgegenzuwirken. So liegt die Neubaustrecke Berlin-München noch im Trend.

http://www.vde8.de