Rennstrecke von Hauptstadt zu heimlicher Hauptstadt

Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8 nimmt Formen an – Erste Verbesserungen ab Ende 2015 spürbar

Streckenbesichtigung nahe Kalzendorf. Hier verschwinden ICE-Züge ab 2017 mit fahrplanmäßig 300 km/h im Tunnel. Foto: Rietig
Streckenbesichtigung nahe Kalzendorf. Hier verschwinden ICE-Züge ab 2017 mit fahrplanmäßig 300 km/h im Tunnel. Foto: Rietig

Kalzendorf, 22. Oktober (ssl) Das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8“ – die Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-München durch den Thüringer Wald –  ist nach sehr zähem Anlauf inzwischen zu einer riesigen, mehrere hundert Kilometer langen Baustelle geworden. Die ersten Vorteile des Ausbaus können Bahnkunden schon selbst erfahren, und Ende 2015 machen sich massive Fahrzeitverkürzungen bemerkbar.

Richtig ab geht der Zug aber im Dezember 2017. Von da an sollen die regulären ICE-Züge von München nach Berlin mit Spitzentempo 300 nur noch etwa vier Stunden und 20 Minuten brauchen. Damit ist die Reisezeit von heute um etwa eindreiviertel Stunde verkürzt. Der ICE-Sprinter schafft es möglicherweise sogar in dreidreiviertel Stunden. Im Vergleich zum Vorkriegs-Sprinter, dem FD-Dieselschnelltriebzug, ist er dann gar um drei Stunden schneller.

Ebenfalls rekordverdächtig ist die mehr als zwei Jahrzehnte währende Bauzeit der Neu- und Ausbaustrecke Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8.1/8.2, wie sie im Fachjargon heißt. Alle Teilstücke zusammen umfassen mehr als 500 Kilometer. Beschlossen 1991 als Teil einer langen Liste zur Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen neuen und alten Bundesländern, sind einige Bauwerke bereits seit 2005 fertig. Brücken ohne Anschluss zierten jahrelang etwa die Landschaft südlich Erfurts, sodass Bürger schon glaubten, es werde nie etwas aus diesem teuren Einheitsprojekt. Jetzt fahren sie mit dem Auto auf der Autobahn Erfurt-Schweinfurt neben einer Trasse her, auf der schon Schienen liegen, Bauzüge fahren und die Oberleitung steht. In Franken ist die Trasse über -zig Kilometer eine einzige große Baustelle.

Tatsächlich würde die Bahn heute kaum mehr Projekte umsetzen wollen, auf denen mehr als 250 km/h gefahren werden kann. Der immense Mehraufwand lohnt nach heutigen Einsichten den Zeitgewinn nicht. Deshalb kann der neue ICx auch nicht schneller als 249 km/h fahren. Aber dort, wo die Trassen nun einmal da sind, darf auch gerast werden.

Die Unstruttalbrücke südlich des Tunnels bei Kalzendorf ist weitgehend fertig, "Hochtastfahrten" bis Tempo 300 haben schon stattgefunden.
Die Unstruttalbrücke südlich des Tunnels bei Kalzendorf ist weitgehend fertig, “Hochtastfahrten” bis Tempo 300 haben schon stattgefunden.

Deshalb fährt der Sprinter-ICE von München nach Berlin ab Dezember 2017 nicht über den Kopfbahnhof Leipzig (Stuttgart lässt grüßen!), sondern über Halle. Halten wird er dort aber nicht, sondern mit rund 160 km/h durchrauschen. Er hält überhaupt nur in Nürnberg. So spart die Bahn eine Menge Zeit und kann ihr ehrgeiziges Ziel erreichen, in weniger als vier Stunden von der wirklichen Hauptstadt in die heimliche Hauptstadt zu fahren. Und angesichts der Entfernung der jeweilige Flughäfen von der City ist das eine echte Alternative zum Flieger. Die gesamte Neu- und Ausbaustrecke wird dann mindestens elf Milliarden Euro gekostet haben.

Bahn glaubt an Zukunft des schnellen Fernverkehrs

Die Bahn glaubt fest daran, dass der schnelle Schienenpersonenfernverkehr, also der mit Geschwindigkeiten um Tempo 250, eine Zukunft hat. Sie prognostiziert einen Marktzuwachs von zehn Prozent  für alle Verkehrsträger 2018 auf der Relation Berlin-München.  Von dem will sie allerdings alleine profitieren: Der Anteil des Pkw soll von 30 auf 25 Prozent und der des Flugzeugs von 50 auf 35 Prozent sinken, während sich der Anteil der Bahn von 20 auf 40 Prozent verdoppeln soll.

Kritikern, die mit mangelndem Verkehrsbedürfnis auf der gewählten Relation argumentieren, hält sie entgegen, dass die Ballungsräume an der Trasse vergleichsweise hohes Wachstum aufweisen und damit eine gute Auslastung der Züge gewährleistet sei. Außerdem fahren künftig viele von ihnen über Berlin hinaus über die bereits jetzt extrem gut angenommene Verbindung nach Hamburg.

Dazu kommt, dass diese Strecke, europäisch gesehen, ein Teil der Transeuropäischen Netze ist. Sie liegt quasi in der Verlängerung zweier weiterer gewaltiger Ausbauprojekte im Norden und Süden: Das ist der Fehmarnbelttunnel im Norden, der 2021 in Betrieb gehen soll. Im Süden schließt sich ab Innsbruck der Brenner-Basistunnel an, dessen Fertigstellung für 2026 anvisiert wird. Während es noch Zweifel an der verkehrlichen Notwendigkeit des Belt-Tunnels gibt, den hauptsächlich Schweden favorisiert und Dänemark finanziert – Deutschland wird eine Milliarde für die südliche Anbindung beisteuern -, besteht nahezu ungebrochener, wohlwollender Konsens darüber, dass die Röhren durch den Brenner als dritte moderne Schienen-Alpenquerung dringend gebraucht werden. Sie kosten am Ende wohl auch mindestens jeweils zehn Milliarden Euro. Am Brennertunnel ist Deutschland indirekt beteiligt, als die EU ihn voraussichtlich mit 40 Prozent finanziert. Das bedeutet knapp 1,2 Milliarden aus der Berliner Bundeskasse. Den Rest zahlen Italien und Österreich. Umgekehrt zahlt die EU auch bei der deutschen Trasse mit.

Zumindest von Norddeutschland bis Norditalien dürfte diese Schnellstrecke also nicht überflüssig sein. Zumal auch Güterzüge dort fahren sollen, im Gegensatz zu einzelnen anderen Neubaustrecken in Westdeutschland. Die Netzplaner der Deutschen Bahn warten dringend auf zusätzliche Kapazitäten für den stetig steigenden Hinterlandverkehr aus den großen Häfen nach Süden und Südosten.

Erste Verbesserungen durch den Bau des Verkehrsprojektes deutsche Einheit sind schon ab Fahrplanwechsel 2015 besonders auf der weitgehend signallosen Trasse zwischen Halle/Leipzig und Erfurt zu spüren, wie die Verantwortlichen der Bahn erklären. Die ICEs fahren jetzt nicht mehr über umständliche Weichenstraßen mit mehreren Abzweigungen in die historische Bahnhofshalle ein, sondern mehr oder weniger auf direktem Weg. „Bisher mussten die Züge von der Messe bis zum Hauptbahnhof mit 40 km/h fahren. Wenn der Umbau des Hauptbahnhofs-Vorfelds beendet ist, können sie bis kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof 150 und 100 km/h fahren“, sagt Frank Kniestedt, der bei der DB für das Bauprojekt zuständig ist.

Zur Beschleunigung gereicht das vor allem der Nordost-/Südwestverbindung Berlin-Frankfurt/Main. Die wird dadurch um eine halbe Stunde schneller, weil die Durchschnittsgeschwindigkeit von 95 km/h auf 110 km/h steigt. Hier hätten wir wieder einen historischen Vergleich zu bieten: Vor dem Zweiten Weltkrieg betrug sie mit den schnellen Dieseltriebwagen der “Fliegenden Hamburger”-Bauart auf derselben Strecke 108 km/h.

Die betreffenden Bahnsteige in Leipzig wurden auf 420 und 370 Meter verlängert, was einen Zuwachs um 80 Meter bedeutete. „Wir wollen mit Doppeltraktion fahren“, sagen die Sprecher. Zwar wurde darauf geachtet, dass die Auswahl des Bodenbelags dem Denkmalschutz entspricht, aber zu einem Dach überm Bahnsteig hat es nicht mehr gereicht. „Die Steine sind so beschaffen, dass man dort nicht ausrutscht“, trösten die Sprecher. Immerhin seien pro Bahnsteig ein bis zwei überdachte Wartehäuschen eingeplant.

Nass ist's auf dem ICE-Bahnsteig vor der Halle des Leipziger Hauptbahnhof. Eine Überdachung ist nicht geplant.
Nass ist’s auf dem ICE-Bahnsteig vor der Halle des Leipziger Hauptbahnhofs. Eine Überdachung ist nicht geplant.

Schnellzüge zwischen München und Berlin gestern und heute

Ab Fahrplanwechsel 15. Mai 1936 fuhr der FDt 551/552 die Strecke von 685 km unter sieben Stunden mit Dieseltriebzügen der Bauart Leipzig / Bauart Köln (beide dreiteilig) von München mit Halt in Nürnberg und Leipzig nach Berlin zum Anhalter Bahnhof. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit lag bei 102 km/h, das Spitzentempo bei 160 km/h. Beispielverbindung aus dem Sommerfahrplan 1939: Ab München 6.40 -13.24 Uhr (=6:44 Std.). Im Sommer 1939 wurden die Dieseltriebzüge aus dem zivilen Fahrplan genommen, der Treibstoff war zu knapp, der Krieg begann. Für Jahrzehnte war der Bahnverkehr zwischen Berlin und München ein acht Stunden währendes Geschleiche; bis 1989 sogar mit scharfen Grenzkontrollen.

Heute schafft der schnellste Zug die Strecke in 6:08 Stunden. Er hält nicht in Leipzig, aber in Bitterfeld, Halle, Naumburg, Jena, Bamberg, Nürnberg und Ingolstadt. Zwischen den beiden letztgenannten Städten kann er schon seine Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h erreichen.