Verbände fordern Comeback alter Gleise

Liste stillgelegter Strecken mit Potenzial vorgelegt

Stehen die Signale bald wieder auf “Freie Fahrt”? ©Foto: Rietig

Berlin, 20. Mai (ssl) Ein Sofortprogramm zur Wiederinbetriebnahme stillgelegter Bahnstrecken haben die Allianz pro Schiene (ApS) und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) von der Bundesregierung verlangt. Sie präsentierten dazu am Montag in Berlin eine Liste mit 186 Trassen von insgesamt gut 3.000 Kilometer Länge. ApS-Geschäftsführer Dirk Flege und VDV-Präsident Ingo Wortmann erklärten, zahlreiche Vorhaben bereits reaktivierter Strecken zeigten, dass sich bei einem nachfrageorientierten Angebot ein wirtschaftliches Geschäftsmodell erstellen lasse. Darüber hinaus sprächen auch klimapolitische Gründe für ein derartiges Programm.

Auf der Liste stehen Streckenabschnitte von Rendsburg bis Konstanz und Aachen bis Guben. Tatsächlich sind seit der Bahnreform 1994 nicht nur rund 6.000 Kilometer Schiene in Deutschland stillgelegt, sondern auch rund 1.200 wieder in Betrieb genommen worden – meist mit Erfolg. Selbst wenn der sich nicht von Anfang an einstelle, müsse „der Renditedruck aus dem Netz [von der DB Netz AG, Red.] genommen“ werden, forderte Flege. Angesichts der klima- und bevölkerungspolitischen Herausforderungen müsse der Bund das Schienennetz nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten führen. Unter Berufung auf die Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie der Bundesregierung sagte Flege, allein in der Reaktivierung von Personenverkehrsstrecken stecke ein Einsparpotential von einer Million Tonnen CO2.

Wortmann sagte, in der Vergangenheit seien viele Nebenstrecken vorsätzlich der Stilllegung zugeführt worden, in dem die Anschlüsse so gelegt wurden, dass etwa Pendler ihre Anschlusszüge nicht mehr hätten erreichen können und stattdessen auf überlasteten parallel führenden Straßen und Autobahnen hätten fahren müssen. „Die Leute waren auch nicht zum Umstieg auf Busse zu bewegen“, aber bei den bereits erfolgten Reaktivierungen zeige sich, dass eine funktionierende, bequeme Bahnverbindung schnell angenommen werde. Zubringerbusse könnten dann ihrerseits auch höhere Passagierzahlen verzeichnen. Oft sei es auch zum Zuwachs an Fahgäst4en gekommen, weil entlang der reaktivierten Bahnstrecke Wohngebiete ausgewiesen worden sein. Das könne gerade bei der sich abzeichnenden neuen Landflucht aufgrund der hohen städtischen Mieten eine strukturelle Hilfe für die Reaktivierung sein, ergänzte Wortmann, der hauptberuflich Vorsitzender der Geschäftsführung der Münchener Verkehrsgesellschaft ist.

Schnelle, flexible Triebwagen bieten heute ganz andere Betriebskostenrechnungen auch auf weniger frequentierten Strecken.© Foto: Rietig

Flege sagte, es gehe aber auch um die Wiederinbetriebnahme von Güterverkehrsstrecken. Er plädierte für Reaktivierungen auch in Fällen, bei denen es bereits Nachnutzungen der einstigen Bahntrasse gebe, etwa den Umbau zum Fahrradweg. „Da werden wir Alternativen finden müssen.“ Der Fahrradclub ADFC ist zwar Mitglied in der Allianz pro Schiene, aber laut Flege „noch nicht mit im Boot“. Der ApS-Geschäftsführer gab sich zuversichtlich, dass die Radfahrerlobby im Interesse des Gemeinwohls und multimodaler Verkehrsangebote sich hinter die Forderung stellen werde.

Im Detail stellen sich die beiden Verbände die Handlungsoptionen so vor, dass die Länder die Planung der Reaktivierung übernehmen – sie müssen am Ende auch den Verkehr bestellen – und der Bund die Bauarbeiten finanziert, sodass die Trassen schließlich wieder in der Hand des Bundes sind. Sie nannten weder einen Zeit- noch einen Kostenrahmen, da die nötigen Mittel von Strecke zu Strecke erheblich variieren. Martin Henke, der für Eisenbahnen zuständige VDV-Geschäftsführer, sagte, es gebe Strecken, da müsse nur das Unkraut zurückgeschnitten werden, und andere, bei denen Brücken neu gebaut werden müssten. Henke fügte hinzu, bei allen Strecken lasse sich eine emissionsneutrale Bedienung umsetzen, sei es mit elektrischem, mit Hybrid- oder mit Brennstoffzellen-Antrieb. Die Verbände wollen sich zunächst an Bundestagsabgeordneten, aber auch an Behöden und Interessengruppen vor Ort wenden, um erste Planungen umzusetzen. „Wir wollen, dass nicht nur diskutiert, sondern gehandelt wird“, sagte Wortmann. Henke ergänzte, der VDV sei von der Bundesregierung geradezu ermuntert worden, die Liste aufzustellen, und deshalb verspreche er sich auch positive Resonanz.

Ein Beispiel für beginnendes Umdenken in Kommunen und Bevölkerung ist die Steigerwaldbahn Kitzingen-Etwashausen – Schweinfurt in Franken . Nachdem auf der rund 50 Kilometer langen eingleisigen Trasse seit Beginn der 2000er Jahre starker Passgier- und Güterverkehrsschwund herrschte, begann der Niedergang der 1893 eröffneten Strecke. Er ging bis zur Sperrung und Entwidmung einzelner Teilstücke. Seit einigen Monaten setzt sich jedoch die örtliche Industrie- und Handelskammer mit einer Potenzialanalyse, die Wirtschaftlichkeit verspricht, für eine Wiederbelebung ein. Die Bayerische Eisenbahngesellschaft als Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehr in Bayern plant ebenfalls eine Reaktivierung, möglicherweise aber nur von Teilstrecken.