Kritik am Führer: Grober Unfug

Was eine Akte von 1934 uns heute sagt

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Berlin, 03. November (ssl) Ein Gespräch am Arbeitsplatz über die nationalsozialistische Regierung hatte 1934 Folgen. Obwohl unvollständig, sagt eine kleine Akte viel über Einschüchterung und Denunziation im Dritten Reich aus.

„Grober Unfug“ – woran denkt der Mensch dabei? Meist wohl an grenzwertig lustige „Streiche“ aus Kindheit und Jugend, Wasserbomben vom Balkon auf die Straße fallen lassen oder Wegweiser in die falsche Richtung drehen zum Beispiel. Das sind Ordnungswidrigkeiten, und wenn man erwischt wird, kann ein Bußgeld zwischen fünf und 1.000 Euro fällig werden.

Bis 1975 war „eine Handlung, die geeignet ist, den äußeren Bestand der öffentlichen Ordnung unmittelbar zu stören oder zu gefährden“ – so die Definition bei Wikipedia – aber noch eine Straftat, für die Paragraf 360, 11 des Strafgesetzbuches („Übertretungen“) wegen Belästigung der Allgemeinheit eine Geldbuße bis zu 150 Mark oder Freiheitsstrafe vorsah. Wer zum Beispiel nur mit einer Badehose bekleidet im Hof eines Kurhauses umherging, musste eine einschlägige Verurteilung gewärtigen.

Während der nationalsozialistischen Herrschaft allerdings war der „Grobe-Unfug-Paragraf“ ein Hebel für politische Einschüchterung und Einschränkung der Meinungsfreiheit. Er stand im Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 und wurde unverändert ins Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871 übernommen. Damals betrug die Höchstgeldstrafe noch „50 Thaler“.

Der Strafbefehl gegen Josef K. ©Foto: Rietig
Der Strafbefehl gegen Josef K. ©Foto: Rietig

Im Reichs-Strafgesetzbuch stand der Passus auch noch am 24. November 1934, als der Perlenmacher Josef K. mit Kollegen in der Perlenfabrik Unterlind zwischen Bayreuth und Marktredwitz über die Reichsregierung unter dem Reichskanzler und Führer Adolf Hitler diskutierte. K. sagte dabei nach Ermittlungen der zuständigen Behörden: „Das kann man sich denken, dass Deutschland sich unter diesem Joch nicht weiterführen lässt.“

Einer oder mehrere der Zeugen dieser Aussage erstatteten bei der Gendarmeriestation Mehlmeisel Anzeige, und am 30. November, also nicht einmal eine Woche später, erhielt Josef K. einen Strafbefehl, dessen Abschrift der ersten Seite wir jüngst in einem Nachlass entdeckten. Darin wurde vermutlich eine Geldstrafe festgelegt, deren Höhe uns leider nicht bekannt ist. Sie stand wohl auf der zweiten Seite.

Abweichung vom Kadavergehorsam

Auch wenn das Dokument (bislang) nicht vollständig entdeckt ist, lernen wir daraus doch einiges über die Meinungsfreiheit in Deutschland, das wir in aktuellen Diskussionen beachten sollten. Wer vergleichbare Kritik an heutigen Regierungen heute im Gespräch äußert, muss keinerlei Rechtsfolgen befürchten. Bestätigt wird die Berechtigung der Angst, von der unsere Eltern aus der Nazizeit berichteten: „Du musstest bei allem, was du sagtest, Angst haben, dass dich jemand verpfeift.“ Denunziantentum gab es offenbar schon bei kleinsten Abweichungen von der Norm, also in diesem Fall vom Kadavergehorsam. In dem Satz wird ja noch nicht einmal ein persönlicher Angriff geäußert, sondern lediglich die Härte des Regimes kritisiert.

Schließlich kann es sein, dass K. noch Glück gehabt hat, indem auf seine Äußerung nur der „Grobe-Unfug-Paragraf“ angewandt wurde. Ein halbes Jahr vor dem „Gespräch“ in der Perlenmacherei unterzeichnete Reichskanzler Hitler neben anderen menschenrechtswidrigen Gesetzen auch ein Strafrechts-Änderungsgesetz, mit dem der Volksgerichtshof eingerichtet wurde. Hier wurden angebliche Hoch- und Landesverräter unter Missachtung elementarer rechtsstaatlicher Prinzipien bis 1945 in Tausenden von Fällen zum Tode verurteilt.